Von Frank Ragutt und Werner Tischer
Wer behauptet eigentlich, dass man für seine Rente privat vorsorgen muss? Wer sagt eigentlich, dass man für umfassende medizinische Versorgung privat vorsorgen muss? Wer meint eigentlich, dass man für Arbeitslosigkeitsrisiken privat vorsorgen muss? Ja, wer eigentlich? Darf man vom Staat nicht viel oder gar nichts mehr erwarten? Diesen Fragen muss sich die Sozialdemokratie stellen und sich fragen müssen, wie sie sie zum würdigen Wohl der Lohnabhängigen beantworten will.
Nach wie vor lebt der übergroße Teil der Bevölkerung – auch in der sogenannten Wissensgesellschaft oder postindustriellen Gesellschaft – vom Verkauf der Arbeitskraft. Dies aber keineswegs freiwillig. Es ist ihnen von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung aufgenötigt.
Die gesellschaftliche Ideologie, der sich die Lohnabhängigen in ganz Europa heute unterwerfen und die ihre gegenwärtigen Arbeitsverhältnisse und Lebensexistenzen bestimmt, pointiert der Münchner Zeithistoriker Andreas Wirsching kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vom 18. September 2017, S. 6) wie folgt: „das Ziel ist das autonome, marktbereite, arbeitende Individuum, das sich befreit hat von Bindungen, Traditionen und persönlichen Loyalitäten; das stets bereit ist, in die eigene Arbeitskraft zu investieren und zugleich Risiken des Investments selbst trägt“. Kurzum: Privat vor Staat! Teilen und Herrschen! Allein und einsam!
Die Soziologie beobachtet und diskutiert diesen Zeitgenossen unter dem Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“. Sein historisches Gegenstück ist der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter. In den Zeiten der großen Industrie war der Industriearbeiter ein starkes politisches Subjekt im Kampf gegen die Herrschaft des Kapitals. Kraftvoll vor allem durch die solidarische Vereinigung. Mit dem Untergang des Industriearbeiters ist diese Kraft verschwunden. Streik und gemeinsamer Arbeitskampf werden zum Relikt.
Die Errungenschaften der Arbeitskämpfe werden abgebaut. Der Rückbau der 35-Stunde-Woche belegt das zum Beispiel. Unter dem unbelegten Vorwurf, dass nichts mehr so zu finanzieren sei wie früher, wird seit Jahren der Sozialstaat ausgehöhlt. Von einem „Klassenlosen Krankenhaus“ spricht, wie noch in den 1970er Jahren, die SPD auch nicht mehr. Dabei war man einst auf einem guten Wege: Denn es ist eine Frage der breiten Verteilung des gesellschaftlichen Vermögens, ob der Sozialstaat funktioniert.
Verteilungsfragen werden heute nicht humanrational durchdiskutiert. Eine Unterscheidung beispielsweise zwischen nützlicher und unnützlicher Arbeit für die Menschheitsentfaltung gibt es auf der großen politischen Bühne nicht. Die Divise ist: Was Profit schafft ist nützlich! Wer seine Arbeitskraft und seine Arbeitsprodukte gut verkauft, der gewinnt! Die Zugänge zur Arbeit werden kontrolliert verknappt, zum Zwecke der Beherrschung des marktbereiten Individuums. Viele konkurrieren um wenige Stellen – vor allem im Bereich gehobener und höherer Fachanforderungen. Die wenigen, die Arbeit haben, arbeiten viel; sie arbeiten oft für zwei und an den Rand der Erschöpfung. Wer den Druck nicht aushält und abstürzt, wird ausgetauscht.
Die Verheißung des Kapitalismus heute verspricht – wie immer schon – schöne Aussichten auf einen Wohlstand für alle: Insbesondere seit den 1990er Jahren, seit dem vermeintlichen Weltensieg des kapitalistischen Systems schlägt die Ideologie des Marktes nahezu ungebremst Blühten – nicht nur in Deutschland und Europa, ja weltweit. In dem Umstand aber, dass die mit dieser Ideologie verbundene Wohlstands- und Gerechtigkeitsversprechung für alle dauerhaft bis heute nicht eingelöst wurde, sieht der Zeithistoriker Wirsching den Erfolg der rechtskonservativen und ausländerfeindlich-nationalen Parteien der Gegenwart begründet.
Da der Kapitalismus nun einmal kein Sozialismus ist, ist eine Einlösung der Versprechen wohl auch in naher Zukunft nicht zu erwarten. Wenn der Kapitalismus das Spiel zu weit treibt, wenn er den Arbeitskraftunternehmer zu sehr in die Ecke der existentiellen Not gedrängt hat und dem System die Gefahr droht, die gesellschaftliche Legitimation zu verlieren, dann gibt es „süße Bonbons“ für die Lohnabhängigen, wie der Sozialphilosoph Theodor W. Adorno es einmal ausdrückte. Revolution soll verhindert werden. Die Bonbons nebeln den Arbeitskraftunternehmer ein, nehmen ihm den Sinn für die soziale Wirklichkeit. Der Arbeitskraftunternehmer bleibt im Hamsterrad der bodenlosen Konkurrenz um soziale Absicherung gesetzt. Gefährdetes Leben!
In dieser historischen Stunde wäre eine kritische Bildung wichtig. Sie kann den Lohnabhängigen den Schleier bewusstmachen, der sie umgibt; sie könnte ihn solidarisieren für den gemeinsamen Kampf. Aber auch die heutige Schulbildung ist weitestgehend bereits in die Ideologie gestellt, markttreue Akteure zu erzeugen. Der Schüler von heute übt sich im Sozialkundeunterricht allzu oft am Börsenplanspiel und realem Unternehmertum. Die Lektüre der Klassiker, die sich um eine humane Aufklärung bemühten, wird immer dünner. Der Geist des Humanismus verkommt, kann man mit dem Bildungsphilosoph Heinz-Joachim Heydorn sagen. Die Kritik tritt zugunsten der Kompetenzbewältigung des Oberflächlichen zurück.
„Wir wollen Arbeit, die gerecht entlohnt wird, die Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen voll ermöglicht“, fordert die SPD. Hat sie damit einen Anteil an der Kraft der vorherrschenden Ideologie der Gegenwart, der Ideologie des Arbeitskraftunternehmers und des marktbereiten Individuums? Gewiss, das müssen wir uns selbstkritisch eingestehen. Denn soziale Absicherung wird an den Verkauf von Arbeitskraft gebunden. Warum aber garantiert gerade nur Arbeit die volle Teilhabe an den sozialen Sicherungssystemen? Warum hat es der, der keine Arbeit hat, aber zum Arbeiten bereit ist, diese volle Teilhabe nicht verdient. Die meisten, die heute keine Arbeit haben – ob dauerhaft oder temporär – sind glückliche und zufriedene Arbeitslose bzw. Geringverdiener, Prekär- oder Leihbeschäftigte.
Etliche Studien belegen, und dies auch von konservativen Wirtschaftsinstituten, dass die private Vorsorgeleistung der Haushalte heute nicht nur gestiegen ist, sondern man auch gar keine andere Wahl mehr hat, daran zurückzuschrauben. Doch der Grad der vollen Absicherung ist schmal. Schnell hat man die Norm nicht erfüllt. Jede nicht Erfüllung der Norm aber wird durch radikale Abstriche bestraft. Nicht immer ist persönliche Faulheit der Grund für das „Versagen“, die Norm nicht erfüllt zu haben. Allzu oft sind auch Lebensschicksale für das „Versagen“ der Lohnabhängigen verantwortlich, die gesellschaftlich verursacht sind. Wer verliert also am meisten? Krankheit und Arbeitslosigkeit können jeden jederzeit treffen; und unter den gegebenen Umständen treffen sie den Einzelnen, also das marktliberale und risikolustige Individuum hart.
Sozialdemokratische Politik, die Lohnabhängige von der Knute der vorherrschenden Ideologie befreien will, die ihnen in der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft die Macht in die Hand geben möchte, gegenüber den Mächtigen und Herrschenden frei und selbstbewusst agieren zu können, muss für die Befreiung des Lohnabhängigen vom Vorsorgezwang und -druck einstehen. Vollumfängliche Versorgung und Vorsorge muss ein Lebensrecht sein. Sie darf nicht vom Geldbeutel und vom Verkaufswert der Arbeitskraft abhängig sein.
Nur so können Krankheit und Arbeitslosigkeit ihren Schrecken als Lebensschicksal verlieren. Nur so können wir in Zukunft eine menschliche Gesellschaft garantieren. Über den jeweils gegenwärtigen Stand und Umfang einer vollumfänglichen Versorgung und Vorsorge hat eine unabhängige Kommission zu entscheiden. Eine Kommission die transparent ist und sich gegen die Lobbyinteressen und -arbeit der Industrie zu widersetzen weiß.
Der Sozialdemokratie täte es gut, sich von diesem Bärendienst für das Kapital zu befreien.
Die SPD, die seit der verlorenen Bundestagswahl auf dem Weg ist, über sich nachzudenken, wäre gut beraten, für die Wiedereinführung eines radikalen Sozialstaates einzutreten. Die SPD muss in der Opposition ihre falschen ideologischen Zöpfe abschneiden. Der erste Schritt dazu liegt in der Befreiung der Lohnabhängigen vom Vorsorgezwang.